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Artikel in der FREIEN PRESSE

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Der letzte Hosenträger-Freak von Brüssel

Sie sind Koryphäen auf ihrem Fachgebiet und sie vereint eins: Sie haben ihre Wurzeln in der Chemnitzer Region oder wohnen hier. Heute: CDU-Europaabgeordneter Dr. Peter Jahr

Von Bettina Junge

Burgstädt - Er kann nicht breit genug sein, mindestens fünf Zentimeter müssen es sein, darunter geht gar nichts. Wer jetzt an alles Mögliche denkt, den klärt Dr. Peter Jahr auf: Gemeint ist die Breite der Hosenträger. „Das ist ein Spleen von mir“, sagt der 63-Jährige. Damit habe er als Student angefangen. „Da sitzen die Hosen immer, egal in welcher Lage oder Gewichtsklasse“, erklärt er. Bei offiziellen Terminen wie seine Reden im EU-Parlament und Interviews verstecke er die Hosenträger aber unter dem Jackett, verrät der CDU-Europaabgeordnete.

Und damit ist er bei seiner nächsten Eigenart. Egal, wo er ist: Er trägt schwarze Jeans, Hosenträger und ein weißes Hemd. Im Schrank hängen mindestens 20 davon und ebenso viele schwarze Jeans. Das gebe ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er erinnere sich noch gut an eine Vorstellungsrunde des Seminargruppenberaters an der Leipziger Uni. Alle seine Kollegen waren im Anzug und Krawatte erschienen, nur er habe Jeans, Hosenträger und Strickjacke getragen. „Da war Heiterkeit im Saal. Einen Anzug mit Schlips sieht man bei mir höchstens mal zur Hochzeit oder Beerdigung.“ Seine Frau Birgit hat sich mittlerweile an seine Marotten gewöhnt. Kennengelernt hatten sie sich in der 9. Klasse in Penig. Verheiratet sind die beiden im Oktober 43 Jahre. „Gefühlt sind wir vielleicht gerade mal die Hälfte zusammen“, sagt Jahr schmunzelnd. Denn der Politiker ist ein Großteil des Jahres unterwegs und nicht daheim. Aber vielleicht halte die lange Trennung die Liebe ja frisch, sagt er.

Dabei ist Jahr nie aus seinem Berthelsdorf bei Lunzenau weggezogen, höchstens mal in eine eigene Wohnung und dann in ein Bauerngehöft. Geboren wurde er 1959 in Burgstädt, weil es dort eine Geburtsklinik gab und seine Mutter von dort stammte. Die Großeltern seien Neubauern gewesen, hätten Land bekommen und bewirtschaftet. Weil der Großvater aber mit den DDR-Oberen in Konflikte geriet und eingesperrt wurde, wurde er enteignet. Trotzdem ist Peter Jahr von der Landwirtschaft geprägt worden. Die Eltern hielten im Nebenerwerb Schweine, Rinder und Hühner. „Da musste ich natürlich ran“, sagt Jahr. So habe er auch noch gelernt, mit der Sense umzugehen und Gras zu hauen.

„Ich will doch auf der Parlamentsbank kein Moos ansetzen.“ Peter Jahr Europaabgeordneter

Peter Jahr machte den typischen DDR-Bildungsweg. Nach dem Abitur in Rochlitz ging er 18 Monate zur Nationalen Volksarmee. „Wer studieren wollte, machte meistens drei Jahre“, sagt Jahr. Er habe bei der Musterung auf eine solche Frage geantwortet: „Wenn es mir gefällt, kann ich ja länger bleiben.“ Doch es gefiel ihm nicht. Eigentlich wollte er Lehrer für Mathematik und Physik werden und im damaligen Karl-Marx-Stadt studieren. Aber Kinder in der DDR zu bewussten Staatsbürgern zu erziehen, schien ihm zu kompliziert. Deshalb wechselte er zur Landwirtschaft. Ein Vorpraktikum in der LPG „Justus von Liebig“ in Taura habe ihn dazu ermutigt, da ihn die Biografie von Justus von Liebig fasziniert habe: Er war ein Chemiker und begründete mit seiner Forschung die moderne Mineraldüngung und den Beginn der Agrochemie.

Jahr studierte ab 1979 – im gleichen Jahr hatte er geheiratet – an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er 1984 als Diplom-Landwirt abschloss. Bis 1988 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. In dieser Zeit wurden seine drei Jungs geboren, seine Tochter war 1998 eine Nachzüglerin. „Ich pendelte zwischen Leipzig und Berthelsdorf“, sagt er.

1988 erfolgte die Promotion zum Dr. agr. mit der Arbeit „Volks- u. Betriebswirtschaftliche Bewertung von Leistungsmerkmalen beim Rind“. Im Prinzip habe die Arbeit den ökonomischen Grundkonflikt in der DDR offengelegt, sagt er. „Was die Gesellschaft braucht, hat sich für die Betriebe nicht gerechnet. Und was für den Betrieb wirtschaftlich sinnvoll war, führte zu Verwerfungen in der Volkswirtschaft.“ Dies sei ein wissenschaftlicher Beweis für das Scheitern der sozialistischen Ökonomie gewesen. Einer von drei Gutachtern wollte deshalb zunächst die Arbeit zurückweisen. Das Ende ist bekannt. Jahr promovierte mit „Sehr gut“. 1989 kam die Wende, die DDR wurde 1990 begraben.

Und da begann der politische Stern des Dr. Jahr am Horizont aufzusteigen. Nachdem er noch vor der Wende als Ökonom in der LPG „Justus von Liebig“ arbeitete, übernahm er von 1990 bis 1995 die Geschäftsführung der dann neu gegründeten Agrar-Gesellschaft in Taura. Dort lernte er auch den heutigen sächsischen Regionalminister Thomas Schmidt kennen. Die beiden starteten ihre Karriere später in der CDU. Jahr war noch 1988 in die Demokratische Bauernpartei Deutschland (DBD) eingetreten, versuchte angesichts von Glasnost und Perestroika eine Erneuerung der DDR, wie er erläutert. Auf einem der letzten Kreisparteitage sei gesagt worden, man reiße doch ein Haus nicht weg, wenn man Zimmer renovieren müsse. Sein Redebeitrag dagegen: „Man renoviert doch nicht, wenn die Fundamente morsch sind.“ Dafür habe er viel Beifall bekommen.

Und so nahm seine politische Karriere ihren Lauf. 1990 fusionierten die DBD und der Demokratische Aufbruch mit der CDU. Von 1995 bis 2007 war er Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Mittweida. Jahr wurde 1994 Mitglied des Stadtrats von Lunzenau und des Kreistages des Landkreises Mittweida. Das Hauptargument damals: „Wenn du das nicht machst, dann machen das andere, willst du das?“, sagten seine Freunde. Also machte er es.

Damals seien Berufspolitiker mit fachlichem Hintergrund gesucht worden, heute sei das eine aussterbende Art, sagt Jahr. „Berufsabschlüsse sind nicht mehr sexy für eine politische Karriere“, resümiert er. Von 1990 bis 2002 war er Abgeordneter des Sächsischen Landtages. Er war von 2002 bis zu seinem Verzicht am 14. Juli 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Peter Jahr ist stets als direkt gewählter Abgeordneter in den Bundestag eingezogen. Bei den Europawahlen 2009 wurde Jahr in das Europäische Parlament mit Sitz in Brüssel und Straßburg gewählt, weshalb er sein Bundestagsmandat aufgab. „Ich fühlte mich im Bundestag nie so richtig heimisch“, sagt er rückblickend. Er brauche die Basis, viele seien davon abgerückt, die Strukturen seien verkrustet. Auch eine Laufbahn als Minister sei nicht sein Ding gewesen. „Ein Ministeramt hat nichts mit Lebensqualität zu tun. Zuviel Struktur, zu wenig Bewegung. Nicht mein Ding.“

„Ich habe kein Blatt vor den Mund genommen, war unbequem, eigentlich bin ich es noch immer“, sagt der 63-Jährige. Das wolle er sich auch behalten, deshalb sagt er in zwei Jahren tschüss: „Ich trete bei den Europa-Wahlen nicht mehr an.“ „Ich will doch auf der Parlamentsbank kein Moos ansetzen“, meint er scherzhaft. Er habe noch genug daheim zu tun, vielleicht wieder Arbeit im Stadtrat oder wieder die Querflöte spielen, wozu keine Zeit mehr blieb. Inzwischen hat er sechs Enkel, auch die verlangen nach ihrem Opa, sagt Jahr. Er wandere gern zum Rochlitzer Berg oder fahre zum Kriebstein-See, manchmal mit dem E-Bike.

Seit 1995 ist er Landwirt im Nebenerwerb. Für seine Nebentätigkeiten geriet er übrigens auch in die Schlagzeilen: Im Jahr 2014 veröffentlichte die gemeinnützige Organisation Transparency International eine Untersuchung, nach der Jahr als Gesellschafter von sechs Firmen bezogen auf den Nebenverdienst Spitzenreiter aller deutschen EU-Abgeordneten sei. Jahr ärgert dieser „Rufmord“ noch immer. Er habe all seine Finanzen offengelegt. Schließlich ruderte die Organisation zurück und im Wikipedia-Eintrag steht seine Steuererklärung. „ Ich bezeichne mich als Quereinsteiger und habe mir immer die Möglichkeit offengehalten, auch ,quer‘ wieder auszusteigen, oder will man Abgeordnete mit einem Berufsverbot belegen?“, fragt er. Dann steige die fachliche Ahnungslosigkeit der Parlamente noch weiter. Man brauche sich nicht zu wundern, warum so wenig selbstständige Unternehmer eine Politiker-Laufbahn einschlagen würden, sagt Jahr. „Aber ich bin in keinem Lobbyverband beschäftigt, wie andere“, sagt er abschließend. Da habe er Prinzipien und zieht sich die Hosenträger straff.